Ende Oktober 2012
Erster
Rundbrief
Liebe Unterstützer, liebe Familie, liebe Freunde und
weitere Interessierte!
Nun bin ich seit knapp drei Monaten in Argentinien und
Florencio Varela und es wird Zeit für den ersten Rundbrief. Dieser wird von
meiner Arbeit bei der Fundación Angelelli und meinem Leben hier in Florencio
Varela handeln.
Die Fundación Angelelli ist eine Organisation, die in
Florencio Varela mehrere centros
comunitarios (=Kinder- und Jugendzentren) hat. Sie wird hauptsächlich vom
argentinischen Staat finanziert, was derzeit ein Problem darstellt, auf das ich
im Laufe dieses Rundbriefes noch weiter eingehen werde.
Momentan arbeite ich an allen Tagen außer dienstags im barrio (=Vorort, Stadtteil) Bosques im centro comunitario. Wenn der Bau des
Hauses im barrio Tres de Mayo
abgeschlossen ist, werde ich im dortigen Zentrum arbeiten. Derzeit ist die
Prognose, dass die Bauarbeiten in etwa eineinhalb Monaten abgeschlossen sein
werden.
Dienstags arbeite ich in der Casa Abierta, der
Hauptstelle der Fundación Angelelli. Dort passe ich mit einer anderen
Freiwilligen und zwei weiteren Mitarbeiterinnen auf die Kinder der Frauen auf,
die an einem psychotherapeutischen Gesprächskreis teilnehmen, weil sie ihren
Kindern nicht die Zuneigung geben können, die sie eigentlich bräuchten. Aus
diesem Grund wird den Kindern in dieser Zeit die Möglichkeit geboten, all das
zu tun, was sie sonst nicht können: Wir spielen und malen mit ihnen oder hören
ihnen zu, wenn sie etwas erzählen möchten. Hierbei ist viel Einfühlungsvermögen
gefragt, das sich merklich weiterentwickelt. Bisher ist die Arbeit dienstags
meine liebste.
Im centro
comunitario in Bosques habe ich einen sehr varianzreichen Arbeitsalltag.
Dieser umfasst die Austeilung des Mittag-, Abendessens und der merienda (= Kaffeetrinken, zu dem es
meistens Tee und Brot gibt), die Unterstützung in den zumeist kreativen
Aktivitäten wie Basteln, Malen, Singen und Tanzen sowie das Helfen beim Aufbau
der alle vierzehn Tage stattfindenden feria
americana (= Flohmarkt).
Die Fundación Angelelli ist eine
politisch sehr engagierte Organisation. Dies konnte ich schnell bemerken, da
der mes de las marchas (Monat der
Demonstrationen) mein erster in Florencio Varela. Momentan besteht in der
Provinz Buenos Aires nämlich das Problem, dass der Staat den sozialen
Einrichtungen keine finanzielle Unterstützung mehr gibt. Deswegen wurde auch
schon ein Projekt, in dem Freiwillige der Evangelischen Kirche des Río de la
Plata arbeiten, geschlossen und in manchen Einrichtungen erhalten die
Angestellten seit ein bis zwei Monaten kein oder ein stark verringertes Gehalt.
Die Frau, die das centro comunitario
in Bosques leitet, sagte, es sei nur noch bis Ende November genügend Geld da
und wenn der Staat bis dahin nicht zahle, müssen auch die Zentren der Fundación
Angelelli geschlossen werden.
Zum politischen Engagement der
Fundación Angelelli gehört auch das Radio Angelelli, das seit einem Jahr
existiert. Es sendet jeden Samstag live, ansonsten werden Aufnahmen und Musik
abgespielt. Jedoch steht es im ständigen Prozess der Erweiterung. So gibt es
beispielsweise für die Frauen aus der dienstäglichen Gesprächsgruppe und ihre
Kinder Kurse, um Radiosendungen vorzubereiten und durchzuführen.
Anfangs fiel es mir ziemlich schwer, mit der Armut der
Leute im barrio umzugehen. Die Kinder
und Jugendlichen, die in die Zentren kommen, tragen häufig schmutzige und
kaputte Kleidung und auch am Umgang mit dem Essen und ihrer Sprache, kann man
merken, dass die meisten von ihnen aus armen Verhältnissen stammen. Daraus
folgt, dass man beispielsweise verstärkt Sensibilität dafür entwickeln muss,
was man von sich erzählt und was man besser für sich behält.
Viele der Kinder kennen keine Orte
außer ihrem Heimatort und Buenos Aires Capital. Aus diesem Grund und wegen des
hiesigen Schulsystems ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Kinder und
Jugendlich über kaum Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Fragt man sie
beispielsweise auf Englisch, das sie in der Schule lernen, nach ihrem Namen,
verstehen sie nicht einmal die Frage oder dass man gerade auf Englisch mit
ihnen redet. Deshalb plane ich, bald im Zentrum Englisch-Unterricht anzubieten.
Insgesamt
bin ich schon jetzt froh, diese Erfahrung hier machen zu dürfen. Denn sie
sensibilisiert mich und regt mich zum Hinterfragen des alltäglichen Lebens
sowohl in Deutschland als auch in Argentinien an.
Auch auf zwischenmenschlicher Ebene ist das Leben hier
anders als in Deutschland. Die meisten Menschen bringen einem eine sehr große
Herzlichkeit und Offenheit entgegen und es gibt eine andere Wertvorstellung.
Das soziale Leben hat einen höheren Wert, sodass es zum Beispiel
selbstverständlicher als in Deutschland ist, dass im Bus die Sitzplätze für
Kinder, Schwangere, Behinderte und alte Menschen geräumt werden. Ein
weiteres Thema, das wegen der teils geringeren Sicherheit als in Deutschland
fragwürdig ist, ist das Vertrauen. Einerseits sagen viele Leute, dass man hier
niemandem vertrauen sollte. Andererseits verlangen viele, ein Vertrauen
entgegengebracht zu bekommen, das man auch in Deutschland nicht ohne weiteres hätte.
Beispielsweise wollte der Hausmeister des Hauses, in dem ich mit einer anderen
Freiwilligen wohne, dass wir ihm in der ersten Woche, die wir hier wohnten,
zwecks Reparaturarbeiten einen Schlüssel hinterließen, da wir zu der Zeit
arbeiten mussten, zu der er die Handwerksarbeiten machen konnte.
Mein Castellano hat sich in den vergangenen drei Monaten
merklich gebessert. Mittlerweile verstehe ich das Meiste und kann den Großteil
der Dinge, die ich sagen möchte, ausdrücken. Allerdings sind meine Gesprächspartner
meistens aus demselben oder einem ähnlichen sozialen Milieu, weshalb ich
zusätzlich einen Sprachkurs mache, um auch Gespräche über komplexere und
politische Themen verstehen und führen zu können. Dafür interessiere ich mich
nämlich sehr und ich möchte mehr über den politischen Hintergrund Argentiniens
erfahren und das System besser verstehen können.
Seit kurzem bin ich in einem Volleyball-Verein, dem Club
Varela Junior. In meiner Mannschaft spielen gleichaltrige Mädchen und Jungen,
die mich sehr herzlich in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben. Daraus erhoffe
ich mir, mehr Einheimische kennenzulernen und somit ebenfalls Facetten der
argentinischen Kultur besser kennen und verstehen zu lernen.
Hoffentlich konnte ich Ihnen und Euch mit diesem
Rundbrief einen einigermaßen guten Einblick in mein Leben hier in Argentinien
geben! Über Antworten und weiter führende Nachfragen würde ich mich freuen.
Viele Grüße und alles Gute aus dem langsam wärmer
werdenden Argentinien,
Ihre / Eure Gabriele Höner